Ein Tier kann sich nicht anders verhalten

Die Hundetrainerin Bettina Stemmler erklärt, was genau hinter einem gewaltfreien Training für Hunde steckt... viel mehr, als man auf den ersten Blick denken würde.

Gewaltfreies Hundetraining klingt gut... aber auch etwas zeitgeistig...

 

Aus historischer Perspektive kann man eine Ausweitung der Empathie beobachten – waren es lange nur weisse europäische Männer der Oberschicht, um deren Gefühle Rechenschaft gezollt wurden, dehnte sich dieser Kreis über die Jahrhunderte aus – auf Frauen, auf Personen anderer Ethnien, auf Kinder und eben auch auf Tiere. Daher ja, sich um das Gefühlsleben von Tieren Gedanken zu machen mag zeitgeistig sein, aber eingebettet in eine längere Entwicklung, die ich durchaus positiv sehe. Denn wir haben alle Säugetiergehirne, die fähig sind Schmerzen und Angst zu empfinden und daher macht es aus ethischer Perspektive Sinn, dies zu berücksichtigen.

 

Sollte ein modernes Hundetraining nicht sowieso gewaltfrei sein?

 

Natürlich! Und würde man sich an der Empirie der Canine Science (Wissenschaft des Hundes) und ethischen Debatten der letzten Jahre orientieren (und das verstehe ich unter «modern»), folgt daraus ein nonaversives Hundetraining – also ein Training, das auf das Zufügen von Schmerz- und Schreckreizen verzichtet. Denn die Daten zeigen deutlich, dass diese Art der Konditionierung sehr erfolgreich ist, bzw. aversives Training mit Risiken wie erhöhter Bissgefahr eingehergehen

 

Siehe dazu Links zu aktuellen Papers: https://www.gewaltfreies-hundetraining.ch/gewaltfreies-training/canine-science/

 

Und auch die ethische Komponente sollte kein Grenzfall sein: Wenn ich einen Weg wählen kann, der sich für alle Beteiligten gut anfühlt, sicher und erfolgreich ist, dann sollte ich diesen einem Weg vorziehen, welcher mit Stress, Angst, Schmerzen und Gefahren verbunden ist.

 

Aber auch hier können wir einen Blick in die Geschichte werfen und sehen, dass Hundetraining nicht aus der Canine Science der letzten Jahre entstanden ist, sondern aus Starkzwangmethoden beispielsweise aus dem preussischen Militär zu Beginn des 20. Jahrhunderts (siehe beispielsweise die Bücher des preussischen Oberst Konrad Most). Da man einen Hund auf Verhaltensebene einigermassen zum Funktionieren bringen kann mit diesen Methoden und sie auf dem hierarchisch-militaristischem Gedankengut jener Zeit basieren, haben sie sich teilweise bis heute erhalten. Ich denke, dass wir Hunde «vermenschlichen», wenn wir unsere Tendenz zu hierarchischem Denken auf sie übertragen und obsolete Dominanztheorien nutzen, um Gewalt im Umgang mit Hunden zu legitimieren.

 

Was versteht man unter Gewalt in der Hundeerziehung? Ist ein spürbarer, aber schmerzfreier Klaps schon Gewalt? Ein Zug an der Leine? Anschreien?

 

In einer Interaktion oder Kommunikation entscheidet immer der Empfänger, ab wann etwas Gewalt oder beispielsweise Diskriminierung ist. So ist es nicht an mir als weisser Person zu entscheiden, ob eine Person of Color sich verletzt fühlt, wenn man einer Schaumsüssigkeit mit einem kolonialistisch-despektierlichem Wort ihrer Ethnie benannt – sondern, es liegt eben an der Zielperson/gruppe. Da es mir in diesem Beispiel überhaupt nicht weh tut, dieser Süssigkeit einen anderen Namen zu geben und die Gefühle meiner Mitmenschen mit anderer Hautpigmentierung zu respektieren, sollte ich es auch tun.

 

Um auf die Hunde zurück zu kommen – viele Leute, auch Hundehalter, sind nicht wirklich sehr gut geschult darin, die äusserst feine, oft blitzschnelle Körpersprache der Hunde zu lesen. Ist man darin geschult, sieht man deutlich, dass eben auch schon ein anscheinend harmloser Ruck an der Leine oder ein bedrohliches Auftreten für den Hund mit Stress und Angst verbunden ist. Daher – da wir lernbiologisch wissen, dass es erfolgreichere Wege gibt, sollten wir auch jene Dinge, die nicht tierschutzrelevant, aber aversiv sind, sein lassen.

 

Es ist mir klar, dass wir alles Menschen sind und einem die Nerven durch gehen können, aber wir sollten uns danach besinnen und uns überlegen, wie wir den Hund trainieren können, dass er sich nicht mehr so verhalten muss, dass wir die Nerven verlieren, bzw. was wir an uns trainieren können, damit wir eine bessere Impulskontrolle haben (diese Fähigkeit ist auch sonst im Leben nützlich…) und dann trotz allfälliger Eskalation unseres Hundes ruhig und konstruktiv bleiben können.

 

Ebenfalls kann es sein, dass eine Notsituation ein unfreundliches Eingreifen notwendig macht. Aber dann ist es eine Notfallmanagement Massnahme und kein Training. Beim Training hingegen ist es unsere Aufgabe, dem Hund Situation zu stellen, in welchen er Erfolg haben kann, ihn punktgenau positiv zu verstärken und die Situation so schrittweise schwieriger zu machen, bis der Hund auch im «richtigen» Leben, in nicht gestellten Situationen, sich erwünscht verhalten kann, beispielsweise eine gute Impulskontrolle aufgebaut hat, entspannt und freudig sein kann usw.

 

Ein Tier kann sich nicht anders verhalten, als es dies tut – aufgrund hochkomplexer Ursachengerüste aus Genetik, Reifung, Prägung, Lernerfahrungen, Gesundheitszustand, Situation usw. Dies sprengt hier den Rahmen, da es um die Frage der «Willensfreiheit» geht.

 

Mehr dazu in diesem Artikel von mir: https://www.scotties.ch/willensfreiheit/

 

Aufgrund der Tatsache, dass jegliches Verhalten sein komplexes auslösendes Ursachengerüst aufweist, ist es weder fair noch zielführend ein Lebewesen für ein gezeigtes Verhalten zu bestrafen. Man erreicht damit maximal das Unterdrücken des Verhaltens. Da dieses Verhalten aber ein Symptom darunterliegender Emotionen, Motivationen und Bedürfnisse ist, macht man die Sache keineswegs besser. Kompetente Trainer hingegen arbeiten daher unter der Wasseroberfläche des Eisbergs, indem sie dafür sorgen, dass beispielsweise ein sich Aggressiv verhaltender Hund lernt, dass ihm keine Gefahr droht und er es daher nicht mehr nötig hat, zu knurren oder zu beissen.

 

In diesem Artikel finden sich Beschreibungen von kompetentem Training und dem besagten Eisbergbild: https://www.scotties.ch/hundetraining/

 

Ist die Gewaltresilienz eines Hundes nicht individuell verschieden?

 

Ja natürlich – es gibt Hunde, die darauf gezüchtet wurden, sehr eng mit dem Menschen zusammen zu arbeiten und die daher sehr viel intrinsische Motivation aufbringen, uns gefallen zu wollen und mit uns zusammen zu arbeiten, beispielsweise Schäfer- und Hütehunde. So ist es krass zu sehen, wie Hunde trotz aversivem Handling immer weiter arbeiten. Andere Hunde, wie Terrier, wurden zu eigenständigem Problemlösen selektioniert.

 

Und natürlich gibt es innerhalb der Rassen grosse Unterschiede zwischen den Individuen. Während ein Hund durch ein aversives Erlebnis ein Leben lang traumatisiert ist, arbeitet ein anderer trotz strafbasiertem Training weiter. Dies ändert aber nichts daran, dass für beide «Hundetypen» ein nonaversives Training erfolgreicher und ethischer ist. Die resilienten Hunde sind ja eben häufig solche, die besonders motiviert sind, mit Menschen zu arbeiten – die würden umso grossartigere Leistungen erbringen, wenn sie sich nicht vor Strafen fürchten müssten und bei den anderen ist ein anderer Weg oft gar nicht denkbar. Als ich in den 90er Jahren mit meinen Scottish Terriern begonnen habe Agility zu trainieren, hiess es wortwörtlich im Club: «Wenn Du wirklich arbeiten willst, dann brauchst Du einen rechten Hund» - denn mit aversiven Methoden kommt man bei den Scotties zum Glück nicht weit, weswegen sie wohl den Ruf haben, dass sie «stur» seien oder «untrainierbar». Aber siehe da – wenn man diese Hunde so trainiert, dass sie das wollen, was ich möchte, ihnen nicht die Kontrolle entzieht und sie belohnungsbasiert trainiert, erreicht man Erstaunliches. So war mein Scottie Hitchcock der erste Vertreter seiner Rasse, welcher sich für ein internationales Agilityturnier qualifizierte.

 

Hier in drei Sprachen als Film zu sehen: https://www.youtube.com/playlist?list=PLE939B361CFE9D230

 

Und er startete mehrfach international erfolgreich. Unterdessen habe ich viele Scotties erfolgreich im Agility ausgebildet und nutze die mediale Reichweite im Facebook und Youtube, um die Leute davon zu überzeugen, ihre Hunde mental zu beschäftigen – natürlich belohnungsbasiert. Denn wir haben ja Hunde, weil wir sie lieben und wenn wir dieser Beziehung durch schöne gemeinsame Erfahrungen noch eine ungeahnte Tiefe hinzufügen können, ist das unbezahlbar.

 

Sieht man sich den Alltag vieler Hunde an, auch solcher in vermeintlich fachkundigen Händen, so zweifelt man oft daran, ob sie wirklich immer artgerecht gehalten werden. Ist darin nicht eine Art Gewalt oder vielleicht eine Vergewaltigung des hündischen Wesens zu sehen? Trauriges Bild auf vielen Hundeplätzen: Der Hund langweilt sich in der Box im Auto... der Meister sitzt in der Kneipe...

 

Hundetrainer ist kein geschützter Begriff – jeder kann sich so nennen und jeder kann Hundetrainerausbildungen anbieten. Darum habe ich mit der Initiative für gewaltfreies Hundetraining ein Positionspapier und Verhaltenskodex (siehe Bild) aufgestellt, damit klar und präzise definiert wird, was kompetentes Training ist und wie man einen guten Trainer erkennt. Was das angesprochene Beispiel angeht: Wenn ich meinem Hund trainiert habe sich sehr wohl und geborgen zu fühlen in seiner Box und er da wirklich entspannen kann und ich beispielsweise mit dem Hund ein angemessenes gutes Training gemacht habe, spricht nichts dagegen ihn in der Box ruhen zu lassen. Bzw. ist vielleicht besser, wie ihn ins Restaurant mitzunehmen, wenn es da beispielsweise viele Reize gibt und ich weiss, dass mein Hund, da und mit der Müdigkeit vom Training zuvor, nicht so gut entspannen könnte. Somit braucht es vor allem ein gutes Einfühlungsvermögen in seinen individuellen Hund, ein solides Wissen über Lernbiologie und Körpersprache, damit man den Bedürfnissen seines Hundes gerecht werden kann.

 

Was ist artgerecht?

 

Das ursprüngliche Verhalten, wie es auch bei den «Village Dogs» zu beobachten ist (siehe Autoren wie Coppinger oder Kirchhoff), besteht aus viel Schlaf und Ruhe, Zusammenfressen von Allerlei, was gefunden wird, lose soziale Beziehungen sowie Fortpflanzungs- und Territorialverhalten. Unsere Haushunde leben in einem anderen Setting und es ist erstaunlich welche hohe soziale Adaptionsfähigkeit Hunde immer wieder an den Tag legen. Was wir aber von den Dorfhunden lernen können: Unsere Hunde brauchen viel Ruhe und Schlaf (16-20h) und Zeit zum Erkunden und Schnüffeln. Es ist nicht normal für sie, von uns getrennt zu sein, weswegen ein schrittweises Training nötig ist, um Trennungsstress vorzubeugen. Es ist auch nicht normal für sie, die ganze Zeit fremde Hunde zu treffen und mit diesen per se gut auszukommen. Sehr viele Hunde sind dadurch gestresst und ihre Menschen wissen zu wenig, wie sie ihnen helfen können, bzw. es wird vieles verschlimmert mit «die machen das schon unter sich aus» oder «meiner ist nett und kommt nur schnell hallo sagen».

 

Wie sieht es aus mit Gewalt im Hundesport? Viel diskutiert ist ja etwa der Stockschlag beim Training mit Schutzhunden.

 

Ich sehe Schutzhundetraining eher kritisch. Dass die Polizei und Armee das machen muss, ist eine andere Sache. Aber weshalb Privatpersonen Hunde zum Beissen ausbilden sollten, erschliesst sich mir nicht wirklich. Zudem ist auch da – vor allem wegen der historischen Komponente – aversives Training verbreitet. Auch hier würde es anders besser gehen und erfreulicherweise gibt es immer mehr Polizeihundeausbildungsstätten, die mit kompetenten Trainern arbeiten und umso bessere Leistungen im Einsatz sehen. Denn gerade, wenn es um Leben und Tod geht, sollte man sicher sein, dass das Tier wirklich seine beste Leistung zeigen kann. Ich habe zum Thema zwei historische Arbeiten geschrieben.

 

Bei Interesse sind sie am unteren Ende der folgenden Seite zu finden: https://www.scotties.ch/canine-science/arbeiten/

 

Ich sehe aber auch in der Agility Szene Dinge, die mir gar nicht gefallen. Es heisst «You get what you train» - Daher: unsere Hunde können nur das leisten, wozu sie aufgrund unseres Trainings im Stande sind. Es ist nicht fair, ihnen Frustration zu zeigen, wenn die Leistung nicht wie gewünscht ausfällt! Ein guter Agilityhandler lobt den Hund immer und jedesmal nach dem Ziel und überlegt sich danach in Ruhe, woran man arbeiten kann, damit es nächstes Mal besser läuft. Ein Hund will weder frech sein noch macht er es «extra» falsch. «Don’t punish your dog for your poor training», heisst es sehr richtig!

 

Auf welche Resonanz bist du gestossen mit deiner Initiative bei Hundetrainern, bei Hundehaltern, in der Öffentlichkeit?

 

Viele kompetente TrainerInnen sind erfreut und unterstützen mich. Hundetrainer und Hundehalter, welche aversiv arbeiten, sehen die Sache natürlich skeptischer. Wie wir aus der Sozialpsychologie wissen, suchen Menschen nach Informationen, welche ihr Weltbild bestätigen (Confirmation Bias) und mögen es gar nicht, wenn man sie mit Fakten konfrontiert, welche Ihre Meinung in Frage stellt oder gar falsifiziert (Kognitive Dissonanz).

 

Zudem neigen viele Menschen zu Autoritätsgehorsam, weswegen sie Ratschläge von aversiv arbeitenden Trainern befolgen und dann mit der Zeit auch verteidigen. Dies da sie dann selber vor sich und der Welt einen Gesichtsverlust befürchten, wenn sie einen Kurswechsel machen würden – es braucht sehr viel Courage sich einzugestehen, Zeit, Geld und Energie in einen schlechten Weg investiert zu haben. Obwohl auf unserer Webseite Videos verlinkt sind, die zweifelsfrei zeigen, wie gewisse Trainer in TV Shows Hunde mit Würger oder Stachelhalsbänder traktieren, können solche Leute immer noch behaupten, dass dies alles nicht wahr ist. Wenn Menschen eine Meinung vertreten und es wichtiger ist, zu einer Gruppe zu gehören oder sich gut zu fühlen, als wirklich möglichst wahre und ethisch vertretbare Dinge zu vertreten, haben Fakten wenig Chancen, etwas zu ändern.

 

Meine Zielgruppe ist daher nicht von aversivem Training überzeugte Personen, sondern Menschen, die noch nichts oder nicht viel zum Thema wissen oder Personen, welche eben doch kein gutes Gefühl im Bauch haben, wenn sie die Anweisungen eines aversiv arbeitenden Trainers befolgen.

 

Damit man sich ein besseres Bild von deiner Initiative machen kann, könntest du ein paar Zahlen nennen?

 

2014 habe ich die Initiative für gewaltfreies Hundetraining (IGH) gegründet; Die ersten zwei Personen, die ich angefragt habe waren die Hundetrainerin Marlen Brandenberg und den Journalisten und Hundetrainer Roman Huber. Dann haben wir innert weniger Tagen über 100 Fachpersonen versammelt, weil wir mit einem Schreiben beim Veterinäramt Zürich verhindern wollten, dass der TV Trainer Cesar Millan im Hallenstadion auftritt (da er nachweislich gegen das TschG verstösst und ein Nachahmen seiner Methoden brandgefährlich ist). Dieses Ziel haben wir nicht erreicht, aber aufgrund der Idee von Sunny Benett aus Wien entstand die «Ticket Tauschaktion», bei der man ein gebrauchtes Ticket gegen eine Trainingsstunde eines IGH Mitgliedes eintauschen konnte. Das war eher eine PR Kampagne, aber hat geholfen, mit dem Verhaltenskodex eine Trainerliste aufzuziehen, welche unterdessen im DACH Gebiet sehr umfangreich ist (über 100 Trainer pro Land – müsste mal wieder zählen gehen.

 

Mehr Infos dazu hier: https://www.gewaltfreies-hundetraining.ch/hundeschulen/

 

580 Personen haben das Positionspapier unterschrieben und viele namhafte, auch internationale Organisationen ebenfalls.

 

Einsehbar unter diesem Link: https://www.gewaltfreies-hundetraining.ch/unterstuetzer/

 

Auf der Webseite stellen wir sodann Ressourcen zu kompetentem Training zu Verfügung: https://www.gewaltfreies-hundetraining.ch/gewaltfreies-training/

 

Wir waren im Radio, TV und in den Zeitungen um über kompetentes Training zu berichten und vor den Gefahren von strafbasiertem Training zu warnen. Wir waren bereits mehrfach an der Hundemesse mit einem Stand vertreten. Es gibt auch eine englischsprachige Seite (www.forcefree-dogtraining.org), welche international im Wachstum begriffen ist.

 

Noch eine andere Frage: Es ist viel von Fachpersonen die Rede. Was ist genau unter einer Fachperson im Zusammenhang mit Hundetraining zu verstehen?

 

Personen, die eine akademische oder eine an der Canine Science orientierte nicht akademische Ausbildung auf dem Gebiet haben (z.B. TierärztInnen, Kognitive EthologInnen, ZoologInnen, HundetrainerInnen, SachbuchautorInnen) usw.

 

Und noch eine Anschlussfrage: Der Mensch zeigt ja oft eine überraschend gute Intuition im Umgang mit Hunden, was ohne Zweifel Ausdruck einer evolutionären Symbiose ist, die sich über Jahrtausende erstreckt. Braucht es da wirklich Fachpersonen? Ist das nicht ein bisschen wie in der menschlichen Didaktik: Seit Jahrtausenden haben Eltern ihre Kinder intuitiv erzogen... meist mit passablem Resultat. Und seit maximal zwei Generationen überlässt man die Kindererziehung vermehrt den Fachpersonen... mit eher durchzogenem Resultat.

 

Ist das wirklich so? Es gibt Studien, die ein anderes Bild zeigen (z.B. Donnier et al. 2020, in Scientific Reports erschienen). So sind Menschen nicht wirklich gut darin, Verhalten und Körpersprache von Hunden richtig zu interpretieren, insbesondere negative Emotionen.

 

Hier herrscht vielleicht ein bisschen ein «Dunning-Kruger Effekt», so überschätzen die Leute ihre Fähigkeit in einem Gebiet, weil sie zu inkompetent sind, ihre eigene Inkompetenz zu erkennen.

 

Häufig habe ich Kunden, welche jahrzehntelang Hunde gehalten haben, aber viele grundlegende Dinge nicht selber intuitiv verstanden haben, bzw. jahrzehntelang Vieles falsch gemacht haben. Dinge können schon irgendwie gehen – Hunde sind unglaublich gut darin, sich uns anzupassen. Das heisst aber nicht, dass man nicht Vieles besser machen könnte. Nur weil man etwas hat/damit gelebt hat, ist man noch kein Experte. Ich habe auch schon mein Leben lang Zähne im Mund, aber bin deswegen noch kein Zahnarzt. Jedem ist klar, dass er sich fachliche Hilfe holen muss, wenn er Zahnschmerzen hat, weshalb soll man das nicht machen, wenn Menschen und Tiere leiden oder gefährdet sind durch das Verhalten des Hundes? Nur weil man etwas immer schon so gemacht hat, heisst das nicht, dass es gut ist oder nicht besser sein könnte. So ist beispielsweise die Tradition der Genitalverstümmelung ist auch nicht erhaltenswert, obwohl sie seit geraumer Zeit vollstreckt wird.

 

Auch was die Erziehung von Kindern angeht, da gibt es zum Glück auch eine Abkehr von Gewalt, bzw. man spricht darüber, dass es nicht ok ist, Kinder zu schlagen. Dass die Schweiz eines der wenigen Länder ist, welches dies noch nicht gesetzlich verankert hat, ist eine Schande.

 

Denn auch menschliche Hirne sind Säugetiergehirne und die Lernbiologie ist dieselbe. Man kann Kinder mit Gewalt zum Funktionieren bringen, aber anders geht es trotzdem besser. Man kann sich auch überlegen, welche Generation Mensch unsere Zukunft braucht – Personen mit starkem Autoritätsgehorsam, Angst vor negativen Konsequenzen und daher passiv oder Personen, welche Herausforderungen als Chancen ansehen und annehmen, die neugierig und selbstwirksam sind und eine gut ausgebildete Empathie gegenüber empfindungsfähigen Lebewesen entwickelt haben.

 

Hierzu ein historischer Bezug, wie die Nazi Ideologie eine ganze Generation in Deutschland geschädigt hat: https://www.spektrum.de/news/paedagogik-hitlers-einfluss-auf-die-kindererziehung/1555862

 

Und total spannend auch das Beispiel, wie Inuit Kinder erziehen: https://www.npr.org/sections/goatsandsoda/2019/03/13/685533353/a-playful-way-to-teach-kids-to-control-their-anger

 

 

 

Bettina Stemmler

 

1982 geboren, lic. phil. UZH, ist Hundetrainerin (cert. Hundeinstruktorin HIK-1 Certodog; int. Hundetrainerin nach Rugaas, Clickertrainerin I und dipl. tierpsychologische Beraterin I.E.T.). Nach einem naturwissenschaftlichen Grundstudium studierte sie Psychologie, Geschichte und Philosophie an der Universität Zürich und hat drei empirische Forschungsprojekte über die Mensch-Hund-Beziehung realisiert. 2014 hat sie die Initiative für gewaltfreies Hundetraining gegründet. Sie besitzt drei Scottish Terrier, die gerne Agility, Clickertraining, Nasenarbeit und vieles mehr machen. Bettina Stemmler arbeitet in einer Filmproduktionsfirma zusammen mit ihrem Mann und als Verhaltensberaterin und Hundetrainerin.

 

Link zu Bettina Stemmler:

www.scotties.ch

 

Link zu Gewaltfreies Hundetraining:

https://www.gewaltfreies-hundetraining.ch/